Einsatzberichte

Reif für die Insel - Madagaskar November 2022

Sambakiti ist gerade sechs Jahre alt und kann seit einiger Zeit nicht mehr laufen. Sie muss auf dem Rücken ihres Vaters getragen werden, wenn sie irgendwo hinmöchte. Vor etwa einem Jahr wurde heißes Wasser auf das schlafende Mädchen verschüttet und seitdem hat eine feste, dicke Narbe das linke Kniegelenk in einer Beugestellung fixiert. Während der Untersuchung steht sie auf dem gesundem Bein, lächelt schüchtern und hält die Hand ihres Vaters fest umklammert. Ob wir das Bein wieder gerade machen können?

Sie ist eine von über dreihundert Patienten, die wir gesehen und untersucht haben und sie ist eine der über 170 Personen, die wir letztendlich operieren konnten. Der Bedarf ist schier unendlich. Nach drei Jahren Pandemie, ökonomischer Krise und einer schlimmen Dürre, die die Ärmsten der Armen noch ärmer gemacht haben, wird unsere Hilfe mehr denn je gebraucht.

Knapp drei Jahre lang konnten wir wegen der Pandemie nicht nach Madagaskar einreisen und umso größer war die Freude, dass wir uns endlich wieder auf den Weg machen konnten. Das diesjährige Team bestand aus drei Chirurgen, drei Narkoseärzten und drei Schwestern. Mit im Gepäck: 360 kg medizinische Ausrüstung, jeweils 5 kg eigene Sachen und ganz viel Einsatzfreude. Der Einsatz begann dieses Mal in dem von der Dürre schwer gebeutelten Süden der Insel. Am ersten Tag warteten 350 Personen darauf gesehen, untersucht und geheilt zu werden. Außerdem warteten etwa 20 Patienten aus Ambovenbe auf eine Operation. Die Stadt ist besonders von der Dürre betroffen und liegt etwa 4 Autostunden vom Krankenhaus in Manambaro entfernt. Die Patienten wurden von einer befreundeten brasilianischen Hilfsorganisation geschickt, damit wir sie operieren konnten. Der Operationsplan war schnell voll, die Warteliste für das Februar-Team auch. Wir haben unzählige Leistenbrüche, Narben nach Verbrennungen, angeborene Fehlbildungen und Tumore gesehen. Das meiste davon waren bekannte Erkrankungen, aber diverse Krankheitsbilder hatten wir bis dahin, wenn überhaupt, nur im Lehrbuch gesehen.

Sambakita nach OP

Wir fingen zügig mit der Arbeit an, sterilisierten die Instrumente, bauten unser Material auf und legten los. Der erste Tag verlief gut, es wurde viel und erfolgreich operiert. Alle waren sehr zufrieden. Am zweiten Tag brach der altersschwache Generator völlig zusammen. Der Notfallgenerator war lange nicht mehr im Einsatz gewesen und konnte nicht zum Leben erweckt werden. Fazit: kein Strom und somit kein Licht, keine sterilen Instrumente, keine Blutstillung und keine funktionierenden Spritzenpumpen oder Narkosegeräte. Der herbeigerufene Techniker schaute sorgenvoll den 1952 zusammengeschraubten Generator an und murmelte etwas von „Wiederbelebung zwecklos“. Mit anderen Worten: Weiterarbeiten nicht möglich. Die Stimmung sank bei allen Beteiligten auf mehrere Minusgrade.

Wir hatten ein massives Problem und suchten nach Lösungen. Somit beschlossen wir kurzerhand unser Geld zusammenzukratzen und dem Krankenhaus einen neuen Generator zu kaufen. Der Chefarzt fuhr persönlich mit dem Verwaltungschef in dem völlig schrottreifem Krankenhausauto auf einer Schlaglochpiste nach Fort Dauphin, um einen Generator und Diesel zu kaufen. Wir konnten nur beten, dass das Auto, ohne allzu oft liegen zu bleiben, den Weg nach Fort Dauphin und zurück vor Anbruch der Dunkelheit machen würde. Ein neues Auto für das Krankenhaus ist unser nächstes Projekt.
Viele Stunden (und ein paar Autopannen) später nahmen wir ein Geräusch wahr, das sich für uns wie eine liebliche Mozartmenuett anhörte: das Brummen des neuen Generators. Er hustete kurz, fing an zu schnurren und hauchte danach Leben in den Sterilisator, in die Op-Lampe und in das Narkosegerät. Die Arbeit konnte weitergehen!!!
Die kleine Sambakiti war eine der ersten, die operiert wurden. Um das Kniegelenk wieder gerade zu bekommen, wurde sie behutsam in Narkose gelegt und auf den Bauch gedreht. Die dicken Narben wurden entfernt, gesunde Haut in den Defekt hineingeschoben und der restliche Hautdefekt mit Vollhaut gedeckt. Um das Bein in einer Streckstellung zu fixieren, mussten wir uns etwas einfallen lassen. Wir hatten keine Schienen, keinen Gips und keinen Orthopädietechniker, aber mit der Zeit wird man kreativ. Es wurde eine 1,5 l-Wasserflasche genommen, der Boden und der obere Teil abgeschnitten und anschließend längs aufgeschlitzt. Somit hatten wir eine gute Schiene, die an das Bein gewickelt werden konnte. Es wurden viele 0,5- bzw 1,5 l -Wasserflaschen zerschnitten, um Kinderarme und Kinderbeine zu schienen. Eine andere Art des Recyclings von Wasserflaschen!

Die Schiene kam nach einer guten Woche ab und die Kleine fing wieder an zu laufen. Nach einiger Übung konnte sie ohne Probleme das Kniegelenk bewegen und „normal“ laufen. Nach ein paar weiteren Tagen konnte sie, die Hand des Vaters fest umklammert, auf eigenen Füßen fröhlich in ihr abgelegenes Dorf zurückkehren.

In Manambaro konnten wir, mit Hilfe von der freundlichen Unterstützung des neuen ärztlichen Direktors und des neuen Generators, insgesamt 129 meist sehr junge Patienten operieren, davon 106 in Vollnarkose. Es wurden unter anderem 41 Gesichter, darunter 15 Lippen- und/oder Gaumenspalten, 14 Hände, 7 Verbrennungen an Ellenbogen, Knie- oder Schultergelenk, und 47 Leistenhernien operiert. Es waren lange, mit viel Arbeit gefüllte Tage, die wir spät abends vor unserem Gästehaus ausklingen ließen, mit dem Blick auf einen fantastischen Sternenhimmel. Unsere Unterkunft hat kein Strom und kein fließend Wasser aber dafür Geckos, Spinnen und Bettwanzen, aber das ist egal, wenn wir man mindestens 1000 Sterne hat...

Den zweiten Teil unseres Einsatzes verbrachten wir in dem kleinen Ort Ambovo, in der Nähe der Hauptstadt Antananarivo. Hier betreibt Tanja Hock, eine deutsche Hebamme, ein Krankenhaus, das nicht nur medizinische Hilfe vor Ort leistet, sondern auch für Lohn und Brot der hier ansässigen Menschen sorgt. Das eine ist mindestens genauso wichtig wie das andere.

Tanja und ihr Team hatten fleißig vorgearbeitet, die Patienten waren schon gesichtet und standen auf dem Op-Plan. Unsere Ärzte mussten lediglich einen Blick auf die kleinen Patienten werfen und und entscheiden, ob sie fit für eine Operation waren. Das Spektrum in Ambovo ist dem in Manambaro sehr ähnlich. Hier operierten wir 46 Patienten, davon 42 in Vollnarkose, darunter 20 Patienten mit Leisten- und/oder Nabelhernien, 6 Lippen- und Gaumenspalten, 4 Kontrakturen nach Verbrennung und viele Tumoren am Kopf.
Besonders im Gedächtnis geblieben ist ein knapp 4-jähriges Mädchen, bei der wir vor 3 Jahren die Lippenspalte korrigiert hatten. Sie war damals nur ein paar Monate alt und wir hatten geplant im folgenden Jahr den Gaumen zu zumachen. Wegen Covid fiel das leider aus, und die Freude war nun groß, die Kleine wieder zu sehen und nun endlich den Gaumen reparieren zu können. Die Operation verlief ohne Probleme und am nächsten Tag konnte die Kleine endlich trinken, ohne dass ihr die Flüssigkeit aus der Nase lief. Die Augen strahlten und wir wurden mit einem fröhlichen Kinderlachen und einem „Daumen hoch“ begrüßt.

In den 14 Tagen auf Madagaskar wurden 175 Patienten operiert, davon 148 in Vollnarkose. Es hat fast immer Freude gemacht, aber am Ende fühlte sich der eine oder andere „reif für die Insel“.

Warum machen wir das alles? Um denen, die auf der Schattenseite des Lebens sind, ein wenig Licht zu schenken, aber auch um zu lernen: Über andere Kulturen, Sitten und Gebräuche, und über uns selber - Grenzen auszutesten und kreativ zu sein. Das, was wir tun mag nur ein Tropfen im Ozean sein, aber für diejenigen, denen wir helfen können, ist es das ganze Meer.

Ohne die Hilfe von vielen Unterstützern hätte dieser Einsatz nie stattfinden können:
Wir bedanken uns bei pro interplast, der den Einsatz finanziert hat, bei PrimaMed, die Material gespendet hat, bei Kiwanis Bad Schwartau, die den neuen Generator finanziert haben, bei Frau Susanna Kinzel, die unermüdlich Kuscheltiere für die Kinder von Madagaskar genäht hat, bei allen Patientinnen und Patienten, die unsere Arbeit auf Madagaskar unterstützt haben und natürlich ganz besonders bei unseren Familien, die uns jedes Jahr auf die Insel ziehen lassen.

Dr. Gie Vandehult

Das Team: Antonia Bruns, Julia Fasold, Volker Galle, Susanne Glasner, Babak Mukhaberi, Katharina Neumann, Daniel Tilkorn, Gie Vandehult, Jelena Wittmann

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